conricerca

rivendichiamo la precarita

Sunday, July 25, 2004

 

Reitter Spinoza

Karl Reitters Homepage

Spinoza – ein vormoderner Denker?

Karl Reitter


Es ist zweifellos ein Verdienst von Antonio Negri und Michael Hardt, Spinoza als Alternative zum sogenannten Hegelmarxismus ins Bewußtsein gerufen zu haben, und dies nicht erst seit ihrem Buch „Empire“. Sucht man freilich andere Arbeiten, die eine Verbindung von Marx mit Spinoza versuchen, wird man zumindest im deutschen Sprachraum kaum fündig werden. Nur, was besagt dieses Faktum? Da ich hier nicht Ideengeschichte oder philosophische Philologie bereiben möchte, sondern einen Betrag zum aktuellen gesellschaftskritischen Diskurs schreiben will, muß die Frage lauten, was leistet der Bezug zu Spinoza für gesellschaftskritisches Denken hier und heute? Und was fehlt uns, wenn wir Spinoza weiter ignorieren?



Diese Frage provoziert freilich die Gegenfrage, ist das Anknüpfen an Spinoza wirklich so unproblematisch möglich, wie Antonio Negri dies in seinen Arbeitern immer wieder tut? Um dieses Problem anzuzeigen, habe ich den Titel, „Spinoza – ein vormoderner Denker?“ gewählt. Man möge sich bitte nicht am Verlegenheitsbegriff der „Vormoderne“ stoßen; was ich meine, wird durch folgende Überlegung sofort klar:



Im Gegensatz zu allen vorangehenden Gesellschaften ist die kapitalistische durch spezifische Spaltungen und Entgegensetzungen gekennzeichnet. Auf der ökonomischen Ebene ist dies die Entgegensetzung von Tauschwert und Gebrauchswert, bzw. von abstrakter und konkreter Arbeit. Auf der politischen ist es die Entgegensetzung von Staat und Gesellschaft, eine Entgegensetzung, die jede von citoyen und bourgeois sowie abstraktem Rechtssystem und konkreten Verhältnissen, einschließt. Wie Marx jedoch zeigt, beruht auch letztere Entgegensetzung von abstrakten, formal freien und gleichen Rechtspersonen und konkreten vergesellschafteten Individuen auf der Entgegensetzung von Zirkulationssphäre und Produktionssphäre. Daß es sich bei diesen Entgegensetzungen um Bestimmungen handelt, die ausschließlich für Gesellschaften gelten, „in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht“[1], respektive ihre „Vollgültigkeit nur innerhalb dieser Verhältnisse besitzen“[2], ist angesichts der Textlage bei Marx sonnenklar. Diese Entgegensetzungen stellen nicht nur den Ausgangspunkt für mannigfache gesellschafstheoretische und emanzipationstheoretische Überlegungen dar, sondern es lassen sich damit sofort spezifische Problematiken gesellschaftlicher Handlungsorientierungen darstellen.



Dazu als Illustration zwei all zu bekannte Beispiele: Selbstverständlich sind praktische Maßnahmen bezüglich ökologisch verträglicher Produktion und sinnvollen Produkten, sowie die Forderung nach Umorientierungen innerhalb bestimmter Gebrauchswertarten (z.B. „Schiene statt Straße“) notwenig und legitim. Nur, sobald die Wert- und Kapitalseite der Produktion ausgeklammert wird, droht die Gefahr, daß diese handlungsleitenden Orientierungen in Naivität oder gar Affirmation des Kapitalismus münden. Muß letztlich nicht die Logik der Kapitalakkumulation über alle noch so gut gemeinte Anstrengungen triumphieren? Ein weiteres Beispiel: Muß nicht der Gegensatz zwischen abstrakter Rechtssphäre und konkreter Vergesellschaftung alle Anstrengungen gleiche Rechte für alle, Menschenrechte für alle usw. einzufordern und auszuweiten konterkarieren? Anders gesagt, hebt der Gegensatz von Gesellschaft und Staat nicht jede auch noch so gut gemeinte politische Initiative auf? Hier ist nicht der Ort, Antworten auf diese Probleme zu suchen. Ich will nur entschieden darauf aufmerksam machen, daß jede Form des emanzipatorischen Denkens und Handelns früher oder später diese Entgegensetzungen berücksichtigen und reflektieren muß. Wie, das ist eine andere Frage.



Der Hinweis auf die Gegensätze von Tauschwert und Gebrauchswert, Staat und Gesellschaft usw. kann dazu dienen, meine These vom vormodernen, oder wenn man will frühkapitalistischen Charakter der spinozistischen Philosophie zu verdeutlichen. Spinoza denkt vor diesen Entgegensetzungen, er denkt in Graden und Abstufungen. Der Begriff potentia, (ich komme darauf noch zurück) übersetzbar mit Macht, Vermögen oder, wohl am treffendsten, mit Tätigkeitsvermögen des Menschen, existiert nur in einem Kontinuum des „Mehr oder Minder“, existiert nur in Graden. Entgegensetzung und Übereinstimmung zwischen den BürgerInnen stellt sich als labiles und stets veränderbares Maß dar. In der Philosophie des Spinozas ist kein Platz für systematischen Widerspruch, nichts kündigt vom Gegensatz von Gebrauchswert und Tauschwert, von Gesellschaft und Staat. Kurzum, Spinozas Denken ist definitiv nichtdialektisch, wenn Dialektik als auf antagonistischen Widersprüchen beruhend definiert wird. Daher hat Hegel immense Mühe, ihn in seine „Geschichte der Philosophie“ einzubauen. Er redet von Gegenübersetzungen[3], wo Spinoza strenge Parallelität postuliert[4], er zitiert Spinozas nebenbei formulierten Satz „Alle Bestimmung ist Negation“[5], obwohl Spinoza die Negation ontologisch ausschließt[6], er sucht den Begriff der Negation der Negation, ohne ihn finden zu können[7], entsogt das Denken Spinozas als gigantische Fußnote zu Descartes[8], leugnet jede Dynamik und Entwicklungsmöglichkeit im Spinozistischen Denken[9], schüttelt nur verwundert den Kopf, weil Spinoza des Böse kategorial ausschließt um letztlich Spinoza als substantiell uneuropäisch („morgenländische Anschauung“[10]; „Nachklang des Morgenlandes“[11]) zu denunzieren. Wer Hegels Eurozentrismus einigermaßen kennt, weiß, was das bedeutet: Spinoza denke nicht auf der Höhe der Vernunft.



Eines ist klar: wird Spinozas Denken auf Basis der Kritik Hegels zurückgewiesen, so kommt Spinoza bloß ideengeschichtliche und philosophiegeschichtliche Bedeutung zu. Doch um welchen Preis erfolgt die Depotenzierung des holländischen Linsenschleifers? Akzeptieren wir für einen Moment, Hegel hätte die antagonistischen Widersprüche, die Zerrissenheit der kapitalistischen Gesellschaft zureichend erkannt und anerkannt. Daß er diese im Staatsbegriff wieder versöhnt, will ich jetzt ausklammern, diese Kritik an Hegel ist zwar nicht falsch, aber vielleicht wohl schon zu oft vorgetragen worden. Ich will jetzt auf einen anderen Punkt hinaus: Die weitaus indirektere und raffinierter Affirmation der kapitalistischen Vergesellschaftung besteht doch darin, antagonistische Widersprüche und Dialektik[12] zu absoluten Bewegungsgesetzen zu erklären. Die Entgegensetzungen, oder - in dieser Sprache - Widersprüche des Kapitalismus werden so zum Sonderfall allgemeiner Widersprüche. Wenn das so ist, ist Spinoza endgültig aus dem Rennen, und die Konflikte im Kapitalismus werden als historisch höherwertiger Spezialfall von Konflikten domestiziert.



Nun gut, diese Sichtweise mag die aussterbenden Dinosaurier des DIAMAT plagen. Trotzdem, die gesellschaftliche Wirksamkeit der Gegensätze Tauschwert/Gebrauchswert, der Entgegensetzung von Gesellschaft und Staat, das alles kann nicht, wie Antonio Negri oftmals vorschnell behauptet, auf die Böswilligkeit des Preußischen Staatsphilosophen zurückgeführt werden. Ihre reale Wirksamkeit kann nicht ignoriert werden. Ebensowenig wie Aristoteles, wie Marx im Kapital ausführt, das Geheimnis der Wertform entschlüsseln konnte, weil die griechische Gesellschaft dies einfach nicht zuließ, ebenso konnte Spinoza die Entgegensetzungen der kapitalistischen Gesellschaft erkennen, da diese im Holland des 17. Jahrhunderts einfach noch nicht erkennbar waren. In der Tat fehlen in seiner Philosophie alle Begriffe, die ein Jahrhundert später zentrale Bedeutung erlangen sollten, kein Wort über Arbeit, Reichtum und ökonomischen Wert, nicht einmal eine Erwähnung des Eigentums, geschweige denn die These, Eigentum sei die Grundlage der Freiheit. Wir finden also bei Spinoza zentrale Begriffe nicht, die uns doch für das Begreifen der kapitalistischen Vergesellschaftung als unumgänglich erscheinen. Ist Spinoza also obsolet? Wenn nein, warum nicht?



Die Antwort, die Antonio Negri immer schon gegeben hat, und die er gemeinsam mit Michael Hardt im „Empire“ erneut bekräftigt, ist ebenso einfach wie grandios: weil Spinoza die Logik des produktiven Seins, des Vermögens des Menschen, und der wahren, tatsächlichen Problematik, eine befreite Gesellschaft zu konstituieren, erkennt und ausspricht. (Welche geschichtlichen und gesellschaftlichen Umstände Spinoza dazu befähigten, diese Frage will ich ausklammern.) Kapitalismus, Herrschaft, Staat und Empire erscheinen wie ein böser Alptraum, der sich parasitär eines produktiven Prozesses zu bemächtigen sucht. Spinoza wird von den Autoren insofern marxistisch gewendet, als diese die Logik von Produktion und Befreiung mit einem sehr ausgeweiteten Arbeitsbegriff identifizieren. Wobei sie für sich reklamieren können, daß ihre Ausweitung des Arbeitsbegriffes keinen billigen Theoriezauber darstellt, sondern real gegenwärtig vollzogen wird. Stichworte: Ausweitung der Fabrik auf die Gesellschaft und obsolet werden der Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit. Aber, so buchstabieren viele marxistisch Inspirierte, spricht nicht Marx eindeutig von reeller Subsumtion, von der Unterordnung der Arbeitenden unter die Logik des Kapitals? Ja und Nein. Gerade in jener Schrift, in der Marx die Begriffe formelle und reelle Subsumtion am genauesten entwickelt, im Fragment „Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses“, unterscheidet Marx klar zwischen den Dimensionen Wertproduktion und Gebrauchswertproduktion hinsichtlich Kompetenz und Vermögen der Arbeitenden, und kommt zu völlig unterschiedlichen Resultaten. Wertmäßig betrachtet sind die ArbeiterInnen bloßes Moment der Produktion, bewegen sich im Ozean der Adornitischen Verdinglichung. Sie fungierten nur als Kapital, sind variables Kapital. Völlig anders sieht die Sache aus, wenn der konkrete Arbeitsprozeß, die Produktion der Gebrauchswerte, betrachtet wird. „Die Produktionsmittel, die der Arbeiter anwendet im wirklichen Arbeitsprozeß, sind zwar das Eigentum des Kapitalisten und treten seiner Arbeit, die seine eigne Lebensäußerung ist, so, wie früher entwickelt, als Kapital gegenüber. Aber andererseits ist er es, der sie in seiner Arbeit anwendet. Im wirklichen Arbeitsprozeß vernutzt er die Arbeitsmittel als Leiter seiner Arbeit, und den Arbeitsgegenstand als die Materie, worin sich seine Arbeit darstellt.“[13] Auf der Ebene des Gebrauchswerts kann die kapitalistische Produktionsweise die Kompetenz und Kreativität der Arbeitenden weder brechen noch ausschalten, das sagt Marx in diesem Zitat, das formulierte Cornelius Castoriadis und das bekräftigen Negri und Hardt mit Berufung auf Spinoza.



Also zwei Logiken, zwei Prozesse? So einfach ist die Sache nicht, zumal die Entgegensetzungen ja nicht in getrennten Sphären existieren, sondern an und in der Sache selbst. Die Ware ist zugleich Träger von Gebrauchswert und Tauschwert, wir sind zugleich abstrakte BürgerInnen und konkrete gesellschaftliche Wesen. Um allerdings die Frage der Aktualität Spinozas diskutieren können, ist es notwenig, einen Blick auf sein Denken selbst zu richten.



Existenz und Essenz


Ich werden nun versuchen, einige Grundzüge des Spinozistischen Denkens vorzustellen, wobei ich mich in erster Linie auf dessen Hauptwerk, die „Ethik“ stützen möchte. In der „Ethik“ finden sich zwei verschiedene Arten von Aussagen. Zum einen postuliert Spinoza unabänderliche, ewige ontologische Gegebenheiten. Er spricht von der unendlichen Substanz, den zwei erkennbaren Attributen des Denkens und der Ausdehnung und von den Modifikationen der Substanz, also von den Einzeldingen, zu denen auch die Menschen zu zählen sind. Der Begriff der Ewigkeit meint nun keineswegs unendliche Dauer, sondern Zeitlosigkeit.[14] Es gibt also ein unendliches, unveränderbares Sein das Spinoza als Substanz, aber auch als Gott bezeichnet.[15] Wenn Spinoza also ein unveränderliche, zeitloses Sein postuliert, dessen Gesetze und Formen (Attribute, Modi) ebenso unveränderlich und ewig sind, ist dann die Kritik Hegels nicht doch berechtigt, es fehle im Spinozismus jede Dynamik und Entwicklung? Ich meine nicht, den das Sein ist grenzelose Fülle und Vielfalt. Daher heißt es im Lehrsatz 16 (I. Buch): „Aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur muß Unendliches auf unendliche Weisen folgen.“ Wenn in der christlichen und jüdischen Tradition von einer unveränderlichen Schöpfung die Rede war, so meinte dies eine fixe, wenn auch große Anzahl wohlunterscheidbarerer Geschöpfe. Spinoza schließt jedoch jede Beschränkung aus. Ich habe bereits zitiert, daß das Wesen (essentia) des Seins „keine Negation in sich schließt“. Die Wendung „unendliches auf unendliche Weisen“ stellt eine weitere Formulierung dieses Umstandes dar.



Um Spinozas Ontologie begreifen zu können, müssen wir uns vor allem zwei Begriffe vor Augen führen, den Begriff der Existenz (existentia) und den Begriff der Essenz (essentia), der oftmals mit Wesen übersetzt wird. Auf der ersten ontologischen Ebene, der Ebene des Seins, der Substanz (oder Gottes) ist die Essenz identisch mit der Existenz und umgekehrt. Das unendliche Sein existiert notwendig und aus eigener Kraft. Seine Essenz ist daher die Exstenz.[16]



Anders stellt sich die Situation auf der zweiten ontologischen Ebene, auf der Ebene der Einzeldinge, der Modifikationen der Substanz, dar. Es wäre eine grobe Mißinterpretation zu meinen, die Einzeldinge, inklusive der Menschen sein außerhalb der Substanz; schon der Begriff Modifikation zeigt das Gegenteil an. In der damals höchst aktuellen Sprache der Theologie: Es existiert kein Schöpfergott außerhalb oder über den Dingen, sondern die Dinge sind Teil oder Modifikationen der Substanz/Gottes. Doch in einem ganz wesentlichen Punkt unterscheiden sich die Einzeldinge von der Substanz: Ihre Essenz schließt die Existenz nicht notwendig ein. An sich ein banaler Gedanke, Dinge entstehen und vergehen, Menschen werden geboren und sterben. Allerdings, welche Wendung gibt Spinoza diesem Umstand? Spinoza entwickelt den Begriff des conatus, übersetzbar mit Streben oder Bestreben. Die Essenz der Einzeldinge kann nicht die Existenz selbst sein, da die Dinge nur für eine gewisse Dauer existieren. An dies Stelle der ewigen Existenz tritt also der conatus. „Das Bestreben, womit jedes Ding in seinem Sein zu verharren strebt, ist nichts anderes als das wirkliche Wesen des Dinges selbst.“[17] Noch klarer ist der Gedanke im lateinischen Original: „Conatus ... rei actualem essentiam.“ Dieses Bestreben, in seinem Sein zu verharren erfordert ein gewisses Potential. Spinoza nennt es potentia; wir haben es oben als Macht, Vermögen oder Tätigkeitsvermögen übersetzt. Jetzt ist klar, in welchem Bezug dieses Tätigkeitsvermögen steht: es bezieht sich auf die Fähigkeit, sein Sein zu erhalten und zu steigern.



Vom Tätigkeitsvermögen des Körpers und des Geistes


Mit dem Begriff potentia sind wir beim Menschen und seinem Betreben angelangt. Ich habe oben den einen Typus von Aussagen angesprochen, Aussagen, die ein unveränderliches, zeitloses Sein darstellen. Nun, im Umkreis von conatus und potentia treffen wir auf einen zweiten Typus. Nun formuliert Spinoza kausale Zusammenhänge, die ein Mehr oder Minder, ein Vermehren oder Vermindern bezeichnen. Denn das Potential der aktuellen potentia kann größer oder kleiner sein. Ich denke, die LeserInnen, insofern sie nicht mit Spinoza vertraut sind, erahnen bereits jetzt die Umrisse der Spinozistischen Ethik. In der Tat geht es darum, jene Verhältnisse, Umstände und Bedingungen aufzuspüren, die das „Tätigkeitsvermögen vermehren oder vermindern“ – diese Formel findet sich an allen zentralen Stellen der „Ethik“. Aus dieser Perspektive definiert Spinoza auch die Begriffe Gut und Böse, gut ist, was eben dieses Tätigkeitsvermögen vermehrt, schlecht, was es vermindert. Spinoza argumentiert jedoch immer auf der Ebene logischer Kausalbeziehungen, er zeigt, was die Wirkungsfähigkeit der potentia erhöht, kann aber keine Aussage machen, ob und wann dieser Umstand tatsächlich eintritt. Anders gesagt, es existiert keine Geschichtsphilosophie bei Spinoza, Hegel vermißte diese und formulierte den Vorwurf der Starrheit. Tatsächlich entwickelt Spinoza ein dichtes Geflecht solcher dynamischer, „wenn ... dann“, „je mehr ... desto“ Aussagen. Als logische Zusammenhänge sind diese ewig, da sich die menschliche Natur nicht ändert, wie er immer wieder formulierte. Doch erkennen wir diese Zusammenhänge, so könnten wir sie nutzen, eine freie und friedliche Gesellschaft zu schaffen.



Um Spinozas „Materialismus“[18] herauszuarbeiten, müssen wir unbedingt auf die strenge Parallelität von Denken und Ausdehnung zu sprechen kommen. Und so lautet der wohl berühmteste Satz der „Ethik“: „Die Ordnung und Verknüpfung der Ideen ist dieselbe wie die Ordnung und Verknüpfung der Dinge.“[19] Auf das denkende und ausgedehnte Ding Mensch angewandt bedeutet dies, daß: „Je befähigter ein Körper ist, vieles zugleich zu tun oder zuleiden, desto befähigter ist auch sein Geist, vieles zugleich zu erfassen.“[20] Oder an anderer Stelle: „Alles, was das Tätigkeitsvermögen unseres Körpers vermehrt oder vermindert, fördert oder hemmt, dessen Idee vermehrt oder vermindert, fördert oder hemmt das Denkvermögen unseres Geistes.“[21] Denken und Ausdehnung, Geist und Natur, Verstand und Körper usw. sind immer nur zwei unterschiedliche Aspekte ein und der selben Sache. Die Vorstellung, der Mensch könne in Ketten frei sein ist im Sinne Spinozas ebenso absurd wie die Meinung, ein bloßes geistiges Wollen, moderner ausgedrückt, die richtige Theorie oder Gesinnung, könne die Dinge zum Besseren wenden. In seiner Theorie der Körper (diese findet sich im II. Buch seiner Ethik) spricht Spinoza davon, daß unser Körper, der selbst wieder aus vielen Körpern zusammengesetzt ist, auf vielfältige Weise affiziert werden kann. Auch hier muß man wieder in Graden und Abstufungen denken. Affiziert werden zu können, ebenso wie selbst zu affizieren, ist ein Vermögen, dessen Höhe durch den Grad der erreichten potentia bestimmt wird. Analog zum Steigen und Fallen der aktuellen potentia, steigt und fällt das Vermögen des Geistes, adäquate Ideen zu bilden.



Ich möchte nun diese Grundthese Spinozas mit etwas anderen Worten ausdrücken. Ein Leben, das durch Reduktion, Verarmung, Monotonie und Herabsetzung bestimmt ist, ist schlecht. Es vermindert nicht nur unsere körperlichen, sinnlichen Fähigkeiten, es macht uns zu abgestumpften, leichtgläubigen und ideologieanfälligen Individuen. Eine derartige Existenz schließt ein Erkennen gesellschaftlicher Verhältnisse ebenso aus, wie adäquate Selbsterkenntnis. Doch diese Reduktion betrifft nicht nur uns selbst, da wir auf andere einwirken, also in gesellschaftliche Beziehungen stehen, vermindert es auch die Existenz der anderen. Genauer, es vermindert die Möglichkeit, eine freie Gesellschaft = eine Gesellschaft der Freien zubilden. Ebenso gilt der umgekehrte Kausalzirkel: Vielfältigkeit, Kompetenzen, Differenzierungen, Reichtum unseres Daseins erhöht nicht nur unsere Fähigkeiten und unser Urteilsvermögen, sondern wirkt auch im positiven Sinn auf andere. Im Grunde findet sich dieser Gedanke auch bei Marx, und zwar in der Formel vom „allseitig entwickelten Individuum“ der kommunistischen Gesellschaft. Auch die Bedeutung, die Negri und Hardt den postfordistischen Arbeitsformen zuschreiben, fußt letztlich auf ihrer Rezeption der Spinozistischen Ethik. Im Gegensatz zur eintönigeren fordistischen Fabrikarbeit beruhen postfordistische Arbeitsformen auf erhöhter Kompetenz und gestiegener Bedeutung der kommunikativen Prozesse. (Ob diese These tatsächlich völlig korrekt ist, diese Frage will ich jetzt ausklammern.)



Wir erreichen nun einen Punkt, an dem die Aktualität Spinozas sichtbar gemacht werden kann. Ob wir es Emanzipation, Revolution oder Konstitution (ein Begriff, den Antonio Negri gebraucht) nennen, immer haben wir es mit realen, konkreten Prozessen zu tun, mit dem Level des tatsächlich erreichten Tätigkeitsvermögen sowohl des Individuums als auch der Gesellschaft. Hier kann der Gegensatz zum Hegelmarxismus nicht größer sein. Stellvertretend möchte ich Georg Lukács zitieren. In zentralen Aufsatz von „Geschichte und Klassenbewußtsein“ bringt er die ganze perfide, zynische Logik des Hegelmarxismus auf den Punkt. Lukács behauptet, der Arbeiter fungiere als bloßer Spielball, als reines Werkzeug des kapitalistischen Kommandos. „Sein unmittelbares Sein stellt ich – wie gezeigt wurde – als reines und bloßes Objekt in den Produktionsprozeß ein.“[22] Die These, die ArbeiterInnen würden in der Produktion als Automaten funktionieren ist so weltfremd und unsinnig, daß es kaum einer Erwiderung bedarf.[23] Offenbar wird aus dem Faktum des Verkaufs der Arbeitskraft geschlossen, die ArbeiterInnen würden daher vollständig zur Ware. Und dann die Pointe: gerade weil die ArbeiterInnenklasse auf der Stufe der höchsten Verdinglichung existiere, sei sie zur umfassenden Einsicht fähig. „Die rein abstrakte Negativität im Dasein des Arbeiters ist also nicht nur die objektiv typischste Erscheinungsform der Verdinglichung, das struktive Vorbild für die kapitalistische Vergesellschaftung, sondern – eben deshalb – subjektiv der Punkt, wo diese Struktur ins Bewußtsein gehoben und auf diese Weise praktisch durchbrochen werden kann.“[24] In Spinozas Worten ausgedrückt: der höchste, absoluteste Mangel soll zur höchsten und tiefsten Erkenntnis befähigen. Kein Wunder, daß dieser Prozeß in der Realität nirgendwo funktioniert hat. Aber, so werden nun manche einwenden, spricht Lukács als Leninist nicht davon, daß nur die Partei die Fackel der Erkenntnis ins das Proletariat hinentragen kann? Stattgegeben, aber das verschiebt diese wahnwitzige These nur um eine Stufe. Willelose Maschinen sollen also befähigt sein, die Wahrheit von Sein und Gesellschaft erkennend zu übernehmen, obwohl sie diese selbst gar nicht entwickeln können. Genug dieses Wirrsinns.



Jus und potentia – Recht und Macht


Um Spinozas Insistieren auf den tatsächlichen, realen Gegebenheiten – Negri nennt dies immer die strenge Immanenz bei Spinoza – noch einmal zu verdeutlichen, möchte ich auf das Thema des Rechts zu sprechen kommen. Jede amerikanische Staatsbürgerin besitzt einerseits formal die gleichen Grundrechte, andererseits ist wohl klar, daß zwischen dem Präsidenten der USA und einem New Yorker Obdachlosen bezüglich ihrer realen Macht ein gigantischer Abgrund klafft. Spinoza kennt und anerkennt diese Spaltung von Rechtsperson und Realperson nicht. Fast lakonisch setzt Spinoza das Recht mit der Macht, also jus mit potentia, gleich. Es sei klar „... daß ein jedes natürliches Ding von Natur aus so viel Recht hat, wie es Macht hat zu existieren und tätig zu sein ...“[25] Müßig zu betonen, daß Spinoza exakt zu den gegenteiligen Schlußfolgerungen wie Thomas Hobbes kommt. Die freie Gesellschaft erfordert nicht Einschränkung des conatus oder der potentia, sondern umgekehrt deren Optimierung. „Da die Vernunft nichts verlangt, was der Natur widerstrebt, verlangt sie also eigentlich, daß jeder sich selbst liebe, seinen Nutzen, d.h. was ihm wahrhaft nützlich ist, suche und alles, was den Menschen wahrhaft zu größerer Vollkommenheit führt, begehre; überhaupt, daß jedermann sein Sein, soviel an ihm liegt, zu erhalten strebe.“[26] Ein tatsächlich konsequent durchgeführter Egoismus führt also nicht zur Entzweiung und Entgegensetzung, sondern umgekehrt zur Übereinstimmung zwischen den Menschen. Auch die Frage der Gleichheit löst Spinoza auf der Ebene des Faktischen, Tatsächlichen. An sich sind die Menschen, genauer ihr jeweils aktuelles Tätigkeitsvermögen, ungleich. Gleichheit kann nicht deklariert, per Gesetz verordnet werden. Gleichheit kann nur dadurch erwirkt werden, indem ein weitaus mächtiges Ding, ein gemeinsamer Staat, geschaffen wird. „Die Bürger werden allerdings mit Recht als gleich angesehen, weil die Macht eines einzelnen, wenn sie mit der des ganzen Staates vergleichen wird, unerheblich ist.“[27]



Gemeinwesen und Menge


Wären die Menschen also „von der Vernunft geleitet“, so würde sich mit Notwendigkeit eine freie Gesellschaft herstellen. Wobei Spinoza den Zweck des Staates - oder sollte der Ausdruck nicht besser Gemeinwesen lauten? - weder aus utilitaristischen, noch aus funktionalistischen Gründen ableitet, sondern unmittelbar auf conatus und potentia bezieht: „Der Mensch, der von der Vernunft geleitet wird, ist freier in einem Staate, wo er nach gemeinsamen Beschlusse lebt, als in der Einsamkeit, wo er sich allein gehorcht.“[28] Selbstverständlich erkennt Spinoza, daß mit der Bildung eines Gemeinwesens ein Gegensatz zum Individuum entstehen könnte. Bei dieser Frage benützt Spinoza philosophische Standards seiner Zeit und verwendet die Begriffe „Naturzustand“ und „staatlichen Zustand“. Nochmals, würden die Menschen konsequent danach streben, das Tätigkeitsvermögen ihres Geistes und Körpers zu erhalten und zu steigern, gäbe es keine Differenz zwischen diesen beiden Zuständen. Anders gesagt, unter optimalen Verhältnissen gäbe es gar keinen Gegensatz zwischen Individuum und Staat, zwischen Naturzustand und Rechtszustand, dieser entsteht nur, weil die Menschen, wie Spinoza immer wieder ohne Spur der Resignation und mit ruhigem Ernst erklärt, in der Regel von negativen Affekten bestürmt werden. Der Staat halt also das Recht, Gesetze zu erlassen und auf ihre Einhaltung zu insistieren. Daraus ergibt sich folgendes Problem: Das Rechts des Staates kann selbstverständlich nichts anderes sein als seine Macht, jus = potentia. Die Macht des Staates entspringt aber allein der Macht der Menge, „weil das Recht des Gemeinwesens durch die gemeinsame Macht der Menge definiert wird.“[29] An anderer Stelle ebenso unmißverständlich: „Denn das Recht des Gemeinwesens wird durch die Macht der Menge, die wie von einem Geist geleitet wird, bestimmt.“[30] Und, um den Ausgangspunkt Menge (multitude) nochmals zu betonten, eine weitere Passage: Es sei klar, „daß das Recht des Staates oder der höchsten Gewalten nichts anderes ist als eben das Recht der Natur, das durch die Macht, nun nicht mehr jedes einzelnen, sondern der wie von einem Geist geleiteten Menge bestimmt wird.“[31]



Unter den leider zu konstatierenden Gegebenheiten des Mangels, des Irrtums und der negativen Affekte der Menschen, kann es also zum Gegensatz zwischen Staat/Gemeinwesen und dem Individuum kommen. Wie dieses Problem lösen? Ich kann mich des Eindruckt nicht erwähren, daß dieses Problem Spinoza einige Mühe bereitete. Was tun, denn die Beschlüsse des Gemeinwesens der Vernunft widersprechen? Angenommen, der Beschluß des Gemeinwesens sei ein Übel, aber sich dem Beschluß zu widersetzten würde konsequent dazu führen, das Gemeinwesen aufzulösen. Jetzt, so Spinoza, stünden wir vor der Wahl eines von zwei Übeln wählen zu müssen, zwischen Gehorsam gegenüber einem unklugen Beschluß und der Auflösung des Gemeinwesens. In diesem Falle plädiert Spinoza dazu, das kleinere Übel zu wählen und das Gemeinwesen zu erhalten. Aber was, wenn es sich nicht um einen vereinzelten unklugen Beschluß, sondern um eine systematische Politik der Unvernunft handelte? In diesem Falle, so Spinoza, würde sich das Gemeinwesen/Staat zu recht auflösen. „Wollen wir trotzdem sagen, das Gemeinwesen habe das Recht oder die Gewalt, solches (unvernünftige Gesetze K. R.) zu befehlen, so nur in dem Sinne, wie sich sage ließe, ein Mensch könne zu recht toll und verrückt sein.“[32] Auch das Gemeinwesen, als „zusammengesetzter Körper“ könne nicht langfristig und systematisch gegen die Gesetze der Natur handeln. Der Rückfall in den Naturzustand wäre unvermeidlich und in diesem Fall das kleinere Übel.



Die Problematik des Gegensatzes von Naturordnung und Sozialordnung reflektiert Spinoza immer wieder auf der Ebene der Ontologie selbst. Einerseits plädiert er im Zweifelsfall für die ewige Ordnung des Seins. Etwa, indem er den ontologischen Status jener Affekte wie Schuld und Verdienst, die nur im „staatlichen Zustand“ Sinn machen, da sie sich auf das Verhältnis der einzelnen zum Staatsganzen beziehen, herabsetzt: „Hieraus wird deutlich, daß gerecht und ungerecht, Schuld und Verdient äußerliche Begriffe sind, nicht aber Attribute, welche die Natur des Geistes ausdrücken.“[33] Andererseits anerkennt er die erkenntnistheoretische Bedeutung von Demokratie und ihre ontologischen Kompetenzen: „Die Geisteskraft der Menschen ist zu schwach, um alles auf einmal durchdringen zu können; durch Sichberaten, Zuhören und Diskutieren wird sie aber geschärft, und indem sie alle möglichen Lösungen erprobt, findet sie endlich diejenige, die sie will, die dann alle Manschen gutheißen und woran doch vorher niemand gedacht hat.“[34]



Ich gebe zu, es bereitet mir ein klammheimliches Vergnügen, den hier skizzierten Überlegungen Spinozas zu Staat und Gemeinwesen ein Zitat aus Hegels Rechtsphilosophie entgegenhalten zu dürfen. Kann man den höheren Zweck des Staates brutaler, offener rund ungeschminkter formulieren? Originalton: „Allein der Staat ist überhaupt nicht ein Vertrag, noch ist der Schutz und die Sicherung des Lebens und Eigentums als einzelner so unbedingt sein substantielles Wesen, vielmehr ist er das Höhere, welches dieses Leben und Eigentum selbst auch in Anspruch nimmt und die Aufopferung desselben fordert.“[35] Zugegeben, das Zitat ist aus dem Zusammenhang entnommen. Aber um den reaktionären Geist dieser Aussage ins Gegenteil zu verkehren, da bedarf es wohl schon sehr viel „Zusammenhang“...



Von den Affekten, Trieben und Begierden


Ich möchte nun einen weiteren Begriff Spinozas vorstellen, den Begriff cupiditas. Spinoza definiert cupiditas als „Begierde ... mit dem Bewußtsein derselben.“[36] Wir befinden uns nun auf der Ebene der Emotionen und Affekte. „Begierde ist des Menschen Wesen selbst, insofern es als durch irgendeine gegebene Affektion desselben zu einem Handeln bestimmt begriffen wird.“[37] Aber auch bei diesem Thema hält Spinoza die strenge Parallelität von Denken und Ausdehnung bei. Nicht nur, daß die Erkenntnis ebenfalls einen emotionalen Index besitzt, also auch als Affekt wirkt, setzt Spinoza Wille, Verstand, Trieb und Begierde praktisch gleich. Alles sind Ausdrucksformen des conatus. Neben der cupiditas existieren noch die Hauptaffekte der Lust und Unlust, alle anderen - Spinoza definiert 48 Affekte, räumt jedoch an, daß es noch weitere zahllose Mischformen gibt - sind nur Variationen dieser Grundaffekte.



Welche Bedeutung kommen den Affekten bei Spinoza zu? Kurz gesagt dieselbe, die bei Marx die Ökonomie hat. Marx sagt klar, das herrschende oder dominierende gesellschaftliche Verhältnis sei jenes der Warenbesitzer, wobei diese „Waren“ im Zuge der Kapitalanalyse als „Kapital“ und „Arbeitskraft“ konkretisiert werden. Will ich also die geschichtsmächtigen gesellschaftliche Verhältnisse analysieren, muß ich eben jene Verhältnisse analysieren, die durch das Kapitalverhältnis bedingt sind. Die selbe Rolle, die nun die Ökonomie bei Marx spielt, spielen die Affekte bei Spinoza. Nicht Warenbesitzer treten sich in der Spinozistischen Sozialphilosophie gegenüber, sondern die von Affekten und Wünschen angeleiteten Individuen. Während Marx eine systematische Verkehrung der wirklichen Verhältnisse im Kapitalismus konstatiert – Arbeit, Boden und Kapital scheinen mit Notwendigkeit unanhängige Quellen des Werts zu sein, tatsächlich entspringt er einzig und allein der lebendigen Arbeit – beruhen die Affekte nur teilweise auf inadäquaten Ideen. Aber in einem Punkt paßt die Analogie wieder: Sind die ökonomischen Verhältnisse bei Marx der Schlüssel zu einer nachkapitalistischen Gesellschaft, so ist es bei Spinoza die Optimierung der Affekte, die eine freie Gesellschaft ermöglichen. Zum Kapitalbegriff selbst gibt es aber keine Analogie. Die Affektionen bewegen sich auf einer Skala zwischen Mangel und Vervollkommnung. Die gesellschaftlichen Beziehungen sind primär durch Liebe und Haß, bzw. deren Unterarten wie Neid, Dankbarkeit, Freundschaft und Mißgunst bestimmt. Spinoza denkt in labilen Gleichgewichten: aus der menschlichen Natur entspringen blanker Haß und Vernichtungswillen ebenso wie die Möglichkeit einer freien Gesellschaft. „Nur insofern die Menschen nach der Leitung der Vernunft leben, stimmen sie von Natur aus notwenig überein.“[38] Aber jeder erreichte Zustand der Optimierung kann ins Gegenteil umschlagen, und umgekehrt. Ohne Zweifel spiegeln sich in diesen Thesen die labilen politischen Zustände des 17. Jahrhunderts. In seinem, leider nicht vollendetem Werk, dem „Politischen Traktat“ untersucht Spinoza die Formen von Monarchie, Aristokratie und Demokratie.[39] Dabei handelt es sich nicht um empirische Untersuchungen, sondern Gleichgewichts- und Optimierungsüberlegungen, unter der Annahme, daß die menschliche Natur nicht verändert oder verbessert werden kann. Wenn, so lassen sich die Überlegungen Spinozas zusammenfassen, die Institutionen dieser Regierungsformen so eingerichtet sind, daß sie die zahllosen Kausalzirkel der Affekte optimieren, dann ist ein friedliches und freies Zusammenleben ohne Furcht und Haß möglich und an ihre Stelle tritt Liebe und Freundschaft.



Im Gegensatz zu Marx kann Spinoza keine geschichtsmächtige Kraft erkennen, die eindeutig und dauerhaft eine freie Gesellschaft herstellen und sichern könnte.[40] Sein vorsichtiger Optimismus ist wieder auf der Ebene der zeitlosen Ontologie angesiedelt. Die Affekte der Lust, der Optimierung der potentia besitzen ein leichtes Übergewicht gegenüber den Affekten der Unlust und des Mangels: „Die Begierde, die aus der Lust entspringt, ist bei sonst gleichen Umständen stärker als die Begierde, die aus der Unlust entspringt.“[41] Diese und ähnliche Aussagen stehen stellvertretend für die spätere Geschichtsphilosophie des Marx. Im Beweis zum eben zitierten Lehrsatz, den ich freilich nur sehr summarisch wiedergeben kann, begründet Spinoza warum dies so sei. Der Mangel entspringe nur unserem eigenen Unvermögen, die Vervollkommnung sei jedoch im Sein selbst angelegt. Das Sein ist immer vollkommen, unvollkommen sind nur wir Menschen, falls wir die Kausalzirkel des Mangels nicht überwinden können. Finden wir nicht Spinoza in Negris ungebrochenem Optimismus wieder?



Macht es also Sinn, die Konstitutionslogik einer freien Gesellschaft zu überlegen und gleichzeitig vom Kapitalverhältnis zu abstrahieren? Ich meine ja, und zwar aus folgendem Grund: Wie Marx immer wieder betont, muß die neue Gesellschaft im Schoß der alten entstehen, und Marx scheut auch vor der Metapher der Geburt nicht zurück. Und exakt an diesem Punkt erkenne ich ein Defizit in Marxens Denken. Marx entwickelt keinerlei Begriffe, um eine mögliche Problematik bei der Konstitution dieser neuen Gesellschaft, die ja in Keimform bereits in der alten heranreifen muß, erkennbar und diskutierbar zu machen. Irgendwie erscheint die „genossenschaftliche, auf Gemeingut an den Produktionsmitteln gegründete Gesellschaft“[42], der „Verein freier Menschen“[43] als völlig konfliktfrei und unproblematisch. Sicher erwähnt er die „Muttermale der alten Gesellschaft“[44], aber gerade durch diese Wendung wird jede Problematik als Überbleibsel der kapitalistischen Vergesellschaftung bezeichnet. Doch die Vorstellung, durch die Beseitigung des Kapitalverhältnisses würde sich alles in grenzenlose Harmonie auflösen, ist sträflich naiv; zudem sprechen die Erfahrungen mit Befreiungsbewegungen wohl eine andere Sprache.



Doch es geht nicht nur um eine ferne mögliche Zukunft, es geht auch um das Hier und Jetzt. Ich meine, daß wir mit Spinozas Lehre der Kausalzirkel, die entweder zur Vervollkommnung oder zum Mangel sowohl an realen, materiellen Verhältnissen, als an adäquaten Ideen führen, ein theoretisches Werkzeug besitzen, dem Begriff des revolutionären Prozesses, einen tatsächlich emanzipatorischen Inhalt zugeben. Und zwar jenseits von Allmachtsphantasien der Machtergreifung und Gestaltung der Gesellschaft durch Zwang und Gewalt. Wir besitzen mit Spinoza einen Ansatz, Kriterien zu entwickeln, die helfen, reale Verhältnisse und Entwicklungen zu begreifen.



--------------------------------------------------------------------------------

[1] Karl Marx, „Das Kapital“ Band 1, MEW 23, Seite 49

[2] Karl Marx, „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie“ Seite 25

[3] „Vielmehr setzt Spinoza nicht Gott und Natur einander gegenüber, sondern Denken und Ausdehnung;“ Hegel, „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie“, Band III, , Frankfurt am Main, 1996 Seite 162

[4] „Die Ordnung und Verknüpfung der Ideen ist dieselbe wie die Ordnung und Verknüpfung der Dinge.“ Ethik, Buch II, Lehrsatz 7

[5] Hegel, „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie“, Band III, , Frankfurt am Main, 1996 Seite 164

[6] „Was dagegen absolut unendlich ist (die Substanz K.R.) , zu dessen Wesen gehört alles, was Wesen ausdrückt und keine Negation in sich schließt.“ Ethik, Buch I, Definition 6, Erläuterung

[7] „Dieser Punkt fehlt dem Spinoza, und das ist sein Mangel.“ Hegel, „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie“, Band III, , Frankfurt am Main, 1996 Seite 164

[8] „Die Spinozistische Philosophie verhält sich zur Philosophie des Descartes nur als eine konsequente Ausführung, Durchführung dieses Prinzips.“ A.a.O. Seite 157

[9] „Denn es ist starre Bewegungslosigkeit, deren einzige Tätigkeit ist, alles in den Abgrund der Substanz zu werfen, in der alles nur dahinschwindet, alles Leben in sich selbst verkommt; Spinoza ist selbst an der Schwindsucht gestorben.“ A.a.O. Seite 167

[10] a.a.O. Seite 165

[11] a.a.O. Seite 158

[12] Es ist immer vergnüglich, HegelmarxistInnen unschuldig zu fragen, was den eigentlich Dialektik sei. Die Bandbreite der Antworten ist erstaunlich.

[13] Karl Marx, „Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses“, Frankfurt am Main, ohne Jahresangabe, Seite 16, meine Hervorhebung.

[14] „Die Ewigkeit kann nicht durch Dauer ausgedrückt werden.“ Ethik, V. Buch, Lehrsatz 29, Beweis

[15] Die Verwendung des Ausdrucks „Gott“ im Argumentationszusammenhang der Ethik ist logisch nicht nachvollziehbar. Wir müssen allerdings bedenken, daß im Holland des 17.Jahhunderts theologische Fragen von politischen nicht zu trennen waren, und der Kampf um Gedankenfreiheit und Kritik an religiösen Lehren zentrale Bedeutung besaßt. Durch den Verwendung seines Gottesbegriffs konnte Spinoza die Widersprüche und Absonderlichkeiten der christlichen und jüdischen Gottesvorstellungen aufzeigen.

[16] Spinoza, Ethik, I. Buch , Lehrsatz 20: „Die Existenz Gottes und sein Wesen sind ein und dasselbe.“

[17] Spinoza, Ethik, III: Buch, Lehrsatz 7

[18] Ich setze diesen Begriff deshalb zwischen Anführungsstriche, weil ich bezweifle, daß die Termini „Idealismus“ und „Materialismus“ außerhalb der Nachhegelschen Polemik überhaupt Sinn machen. Oftmals werden sie als bloße Etiketten gebraucht, die man recht gedankenlos irgendwelchen Positionen überstülpt.

[19] Spinoza, Ethik, II. Buch, Lehrsatz 7

[20] Spinoza, Ethik, II. Buch, Lehrsatz 13, Anmerkung

[21] Spinoza, Ethik, III. Buch, Lehrsatz 11

[22] Georg Lukács, „Geschichte und Klassenbewußtsein“, Darmstadt und Neuwied 1983, Seite 295

[23] Tatsächlich existiert ein Widerspruch zwischen den Tendenzen des Kapitals, die ArbeiterInnen in eine reine Maschine zu verwandeln und der unaufhebbaren Tatsache, auf die Spontaneität und Kreativität angewiesen zu sein.

[24] Georg Lukács, „Geschichte und Klassenbewußtsein“, Darmstadt und Neuwied 1983, Seite 301

[25] Spinoza, „Politischer Traktat“ Hamburg 1994, Seite 15

[26] Spinoza, Ethik, IV. Buch, Lehrsatz 18, Anmerkung

[27] Spinoza, „Politischer Traktat“ Hamburg 1994, Seite 193

[28] Spinoza Ethik, IV. Buch, Lehrsatz 73

[29] Spinoza, „Politischer Traktat“ Hamburg 1994, Seite 45

[30] Spinoza, „Politischer Traktat“ Hamburg 1994, Seite 41

[31] Spinoza, „Politischer Traktat“ Hamburg 1994, Seite 35

[32] Spinoza, „Politischer Traktat“ Hamburg 1994, Seite 43

[33] Spinoza Ethik, IV. Buch, Lehrsatz 37, Anmerkung 2

[34] Spinoza, „Politischer Traktat“ Hamburg 1994, Seite 203

[35] Hegel, „Grundlinien der Philosophie des Rechts“, Frankfurt am Main 1986, Seite 191

[36] Spinoza Ethik, III. Buch, Lehrsatz 9, Anmerkung

[37] Spinoza Ethik, III. Buch, Definitionen der Affekte 1.

[38] Spinoza Ethik, IV. Buch, Lehrsatz 35

[39] Tatsächlich beruhen alle drei Formen auf starker demokratischer Partizipation.

[40] Interessant ist Spinozas Kommentar zur Revolution Oliver Cromwells. Spinoza kann darin nur einen tragischen, resultatlosen Zirkel von Emotionen erkennen. Vergl. dazu: „Theologisch-politischer Traktat“, Hamburg 1994, Seite 283

[41] Spinoza Ethik, IV. Buch, Lehrsatz 18

[42] Karl Marx, MEW 19, „Kritik des Gothaer Programms“ Seite 19

[43] Karl Marx, MEW 23, „Kapital Band I“, Seite 92

[44] Karl Marx, MEW 19, „Kritik des Gothaer Programms“ Seite 20





<< Home

Archives

05/01/2003 - 06/01/2003   03/01/2004 - 04/01/2004   04/01/2004 - 05/01/2004   07/01/2004 - 08/01/2004   11/01/2004 - 12/01/2004   12/01/2004 - 01/01/2005   03/01/2005 - 04/01/2005  

This page is powered by Blogger. Isn't yours?